Zur Entwicklung der Sportwissenschaft
Ommo Grupe
Kultureller Sinngeber. Die Sportwissenschaft an deutschen Universitäten
Leibesübungen haben an deutschen Universitäten eine jahrhundertelange Tradition. Das Bild vom jeu de paume des Collegium illustre in Tübingen ziert manche Universitätsgeschichte und viele Publikationen zur Sportgeschichte. Häufig waren Exerzitienmeister für Reiten, Fechten und Ballspiele an unseren alten Universitäten angestellt, von denen auch einige über Ballhäuser, Reitanlagen und Turnierplätze verfügten. Im Gefolge der Jahnschen Turnbewegung wurden diese eher elitären Sportmöglichkeiten zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts durch studentische Turnplätze ersetzt oder ergänzt (und bald auch schon wieder verboten), und in den 30er Jahren wurden eigene gymnastische Anstalten oder Universitätsturnanstalten gegründet, dies auch, um die damals etwas aufmüpfigen Studierenden besser unter Kontrolle zu haben. Auch Universitätsturnlehrer wurden eingestellt.
Wechselvolle Tradition
Die wechselvolle Tradition dieser Einrichtungen ist bis heute im Allgemeinen Hochschulsport der Universitäten lebendig geblieben, der ein Angebot in vielen Sportarten für die Studierenden und Bediensteten der Universitäten umfaßt und gesundheitlichen, sozialen und pädagogischen Zielen dienen soll. Nach dem Ersten Weltkrieg und unter dem Eindruck seiner Folgen hatten die studentischen Nachkriegsjahrgänge sogar zu diesem Zweck einen studentischen Pflichtsport verlangt und in Göttingen beschlossen. Von den nationalsozialistischen Machthabern wurde er ihnen dann nach 1933 als verbindlicher Teil ihres Studiums verordnet. Heute ist der Studentensport in den meisten Universitäts- und Hochschulgesetzen der Bundesländer verankert und ausdrücklich freiwillig. Gemessen an dieser Geschichte der Leibesübungen und des Sports an unseren Universitäten ist die Geschichte der Sportwissenschaft kurz. Zwar führen manche Autoren wie beispielsweise Carl Diem, der erste Rektor der in Köln nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 gegründeten Sporthochschule, die Sportwissenschaft zurück bis zu dem griechischen Arzt und Philosophen Philostratos, der die Gymnastik eine Wissenschaft genannt hatte, oder wenigstens bis zu den Philantropen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die zahlreiche Bücher über die Theorie der Leibesübungen schrieben. Auch die Gründung von Turnlehrerbildungsanstalten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und schließlich der (privaten) Hochschule für Leibesübungen in Berlin 1920, deren Rektor der bekannte Berliner Chirurg August Bier war, können als solche sportwissenschaftlichen Anfänge angesehen werden. Sie stehen im Zusammenhang mit öffentlichen Erwartungen an die wissenschaftlichen Ergebnisse der Arbeit solcher Einrichtungen und sind mit der Forderung verbunden, Ausbildungsgänge für Sportlehrer und -lehrerinnen wissenschaftlich zu fundieren. Natürlich spielte auch der Wunsch, auf diese Weise deren Ansehen zu mehren und - indirekt - zur Anerkennung von Turnen und Sport in der Öffentlichkeit beizutragen, eine Rolle. Von der universitären Institutionalisierung der Sportwissenschaft konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede sein.
Keine akademische Anerkennung
Nach dem Zweiten Weltkrieg und zunächst immer noch unter dem Eindruck der Überbewertung des Sports im Nationalsozialismus wurden an vielen Hochschulen zunehmend Ausbildungsgänge für Sportlehrerinnen und Sportlehrer eingerichtet. Die tatsächliche akademische Anerkennung des Sports war damit aber nicht verbunden. Noch 1947 hatte sich eine große und renommierte rheinische Universität gegen eine "facultas für Bauchwelle" ausgesprochen, und einer anderen (norddeutschen) wurde 1955 die "völlige Trennung des Hochschulinstituts für Leibesübungen von der Universität" empfohlen, weil es sich um einen Bereich handle, der mit Lehre und Forschung nichts zu tun habe. Der vor kurzem verstorbene langjährige Präsident des Deutschen Sportbundes und Nationalen Olympischen Komitees Willi Daume, mit zahlreichen staatlichen, literarischen und akademischen Ehrungen ausgezeichnet, erhielt von einem renommierten Universitätsprofessor, den er um einen Festvortrag gebeten hatte, Anfang der fünfziger Jahre die Antwort, er wolle sich doch nicht mit dem Sport kompromittieren. Die akademische Anerkennung des Sports erfolgte erst Ende der 60er Jahre mit der Errichtung von Professuren, zunächst, wenn auch ziemlich zögerlich, zwar nur an einigen Universitäten, denen dann aber im Laufe der 70er Jahre eine Reihe weiterer folgten.
Der Deutsche Sportbund als Vertretung des in Vereinen organisierten Sports hatte zwar schon 1950 die Forderung nach Einrichtung solcher Professuren erhoben und damit auch auf einen öffentlichen Bedarf aufmerksam gemacht, den die Universitäten selbst zunächst jedoch ignorierten. Das gilt auch für die verantwortliche Bildungs- und Wissenschaftspolitik jener Jahre. Das Verhältnis der Universitäten zum Sport blieb in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ein "Unverhältnis"; Sport wurde von ihnen nicht als wissenschaftswürdig angesehen. Sie boten zwar im Hochschulsport Programme für ihre Studierenden an, bildeten Sportstudenten und Sportstudentinnen für den Schuldienst aus, die wissenschaftliche Bearbeitung von Fragen des Sports wurde aber nicht als notwendig angesehen. Wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Sport konnten nur, wenn überhaupt, dann in anderen Fächern geschrieben werden, beispielsweise in Geschichte oder Anglistik. Das Fach Sport als Promotionsfach gab es nicht. Nur einige Liebhaber des Sports traten für ihn ein, unter ihnen so angesehene Wissenschaftler wie der Mediziner Hans-Erhard Bock, der Altphilologe Erich Burck, der Psychologe Phillipp Lersch, der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner und der Pädagoge Eduard Spranger. Die heutigen Institute für Sportwissenschaft oder Sportwissenschaften hießen Institute für Leibesübungen, was für die ihnen zugedachten Aufgaben in den beiden Nachkriegsjahrzehnten kennzeichnend war. Eine systematische und institutionalisierte wissenschaftliche Behandlung von Fragen des Sports bedeutete dies nicht.
Sport als Massenphänomen
Dies änderte sich in den 60er Jahren, und es geschah vor allem unter dem Einfluß externer Faktoren; weniger weil die Universitäten nun unversehens Verständnis für die Belange des Sports entwickelt hätten, sondern weil mittlerweile der Sport zu einem Massenphänomen zu werden begann. Immer mehr Menschen wurden sportlich aktiv. Die Bedeutung von Spiel, Sport und Gymnastik für Gesundheitsförderung und Freizeitverbringung nahm zu, Medien und Wirtschaft entdeckten seine ökonomischen und medialen Möglichkeiten. Zudem standen die Olympischen Spiele 1972 in München, bei denen der Welt ein anderes Deutschland gezeigt werden sollte, vor der Tür; und die politische Instrumentalisierung des Sports als Folge der Ost-West-Konflikte führte dazu, zur Förderung des Leistungssports alle Ressourcen einzufordern, auch die der Sportwissenschaft. Die Bereitstellung sportwissenschaftlicher Forschungsmöglichkeiten wurde deshalb vor allem auch zu einer politischen Frage.
Auch die Sportorganisationen selbst verlangten jetzt - hartnäckiger als zuvor - wissenschaftliche Ratschläge und Ergebnisse. Offensichtlich hatten sie begriffen, daß sie angesichts der rapiden Sportentwicklung ihre Probleme auf Dauer nicht nur auf der Grundlage von Erfahrungen würden lösen können, wie das bis dahin geschehen war, sondern daß Sicherung und Steuerung ihrer Entwicklung auf wissenschaftliche Beratung angewiesen sei. Dies galt für den Bereich des Hochleistungssports ebenso wie für den Breitensport, für Prävention und Rehabilitation im Gesundheitsbereich wie für den Bereich der Schule. Hinzu kam die generelle Veränderung der Funktion der Wissenschaft in einer "verwissenschaftlichten" Welt, in der Gewicht und Rolle von Alltagserfahrungen abnehmen, weil viele der zu lösenden Probleme sich als so neu und auch noch so kompliziert darstellen, daß man glaubt, zu ihrer Bearbeitung Wissenschaft nötig zu haben. Wie geht man mit alten Menschen im Sport um, wie hoch, wie lange und wie oft und in welcher Form darf oder muß man sie belasten, daß sie davon auch gesundheitlich profitieren? Unter welchen Bedingungen sind sportliche Aktivitäten überhaupt gesundheitlich wirksam? Wie gestaltet man ein erfolgreiches Training im Hochleistungssport? Dürfen und sollen Frauen Mittel- und Langstrecken laufen, wovon Ärzte ihnen - obwohl sie dies gerne wollten - abrieten? Inzwischen laufen viele Frauen den Männern auch im wörtlichen Sinne davon. Wie nutzt man die Möglichkeiten des Sports in der Rehabilitation von Infarkt-Patienten? Diese Fragen und viele andere wurden zunehmend für den Sport wichtig. Darüber hinaus führte die Verfeinerung des Forschungsinstrumentariums in vielen Fächern dazu, daß auch fast alles als erforschbar erschien.
Zunehmend professioneller
Ein anderer wichtiger Grund der Forderung nach Schaffung sportwissenschaftlicher Forschungsmöglichkeiten an den Universitäten bestand darin, daß Unterricht, Ausbildung oder Training im Sport zunehmend professionalisiert wurden. Speziell ausgebildete Fachleute wurden nun auch im Sport verlangt. Das galt nicht nur für traditionelle Sportlehrerausbildungsgänge, sondern auch für die Trainer- und Übungsleiterausbildung in Deutschland. Was bis dahin oft "naiv" gemacht wurde und werden konnte, sollte jetzt eine wissenschaftliche Grundlage erhalten und durch die Kenntnis wissenschaftlich-methodisch gesicherten Wissens gestützt werden. Allerdings sind die Naivitäten nicht ganz außer Mode gekommen und entfalten nach wie vor ihren hilfreichen Einfluß: Den Langläufergemeinden in den Universitätsstädten gehören inzwischen auch viele Hochschullehrer an, und auch sie vertrauen dem in diesen kursierenden Geheimwissen über die leistungsfördernden Wirkungen von Sprays, asiatischen Salben und ätherischen Ölen mehr als wissenschaftlichen Erkenntnissen. Warum auch nicht?
Die daraus resultierenden Forderungen fanden allerdings zunächst nur geringes öffentliches Gehör. Aber es wurde doch auch deutlich, daß die wissenschaftliche Bearbeitung von Problemen des Sports nicht allein im egoistischen Interesse der Sportorganisationen liegt, sondern auch eine gesellschaftliche Nachfrage widerspiegelt. Nur dies rechtfertigt es ja letztendlich, daß - wie es ab Ende der 60er Jahre geschah - mit nicht unerheblichem Aufwand Aufbau und Entwicklung der Sportwissenschaft zu einem öffentlich-politischen Anliegen gemacht wurden. Es wurde deutlich, daß ein solches gesellschaftliches und kulturelles Ereignis wie der Sport einer angemessenen wissenschaftlichen Behandlung bedürfe. Erst damit also, mit dem beginnenden internen Aufbau einer Sportwissenschaft einerseits und der politischen Bereitschaft zur Bereitstellung von Mitteln für eine akademische Sportförderung andererseits - beides zeigt einen gesellschaftlichen Bedarf - waren die Voraussetzungen für die Entwicklung der Sportwissenschaft an deutschen Universitäten geschaffen. Quantitativ zeigt sich dies ab Ende der 60er Jahre hinsichtlich von Stellen und Mitteln, die bereitgestellt wurden; organisatorisch in Bezug auf die Schaffung einer tragfähigen universitären Infrastruktur; bewußtseinsmäßig im Hinblick auf die - wenn auch ab und zu widerwillige - Akzeptanz eines bis dahin wenig geliebten Faches an den Universitäten. Freundlicher Ausdruck dieser Entwicklung ist, daß an einer Reihe von Universitäten architektonisch ansehnliche Sportanlagen und -bauten entstanden sind, die nicht nur den Wohlstand der 70er und 80er Jahre in Westdeutschland sichtbar machen, sondern auch zeigen, daß der klassische, aber meist unbefolgt gebliebene Grundsatz, daß zur akademischen Bildung (was immer das heißt) auch körperlich-sportliche Betätigungen (und deren Reflexion) gehören, seine Ausstrahlungskraft noch nicht ganz verloren hatte. Dies alles hängt nicht zuletzt auch mit den inneren strukturellen und quantitativen Veränderungen des Hochschulsystems in der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 60er Jahre zusammen.
In den 70er Jahren institutionalisierte Fachdisziplin
Aus verstreuten und unzusammenhängenden sportwissenschaftlichen Betätigungen von einzelnen wurde in den siebziger Jahren nun eine institutionalisierte akademische Fachdisziplin. Über deren tatsächliche wissenschaftliche Leistung sagt dies zwar noch nichts aus, wohl aber darüber, daß es offensichtlich zum einen einen hinreichend großen gesellschaftlichen Bedarf an sportwissenschaftlichen Erkenntnissen gab; zum anderen war die politische Bereitschaft vorhanden, die materiellen und finanziellen Voraussetzungen für die Erfüllung eines solchen Bedarfs zu schaffen; und zum dritten bestanden auch die ökonomischen Möglichkeiten, diesen politischen Willen umzusetzen. Im Fall der Sportwissenschaft war es also nicht oder nur in Einzelfällen das Ergebnis der Bereitschaft von Universitäten, daß es zur Einrichtung einer eigenen Sportwissenschaft kam. Es war vor allem das Ergebnis gesellschaftlicher Nachfrage, öffentlichen Drucks und diesen folgenden politischen Entscheidungen.
Allerdings reichen Nachfrage und Druck üblicherweise nicht aus, die akademische Inthronisation eines Faches herbeizuführen. Neben der rapiden Entwicklung und Ausbreitung des Sport selbst, ohne die es heute vermutlich keine Sportwissenschaft gäbe, und der allgemeinen "Verwissenschaftlichung" unserer Welt gibt es auch noch zwei andere Gründe: Einmal ist es die Tatsache, daß Leibesübungen nicht nur ein anerkanntes Schulfach wurden, sondern die Lehrerinnen und Lehrer in diesem Fach nun möglichst auch wissenschaftlich ausgebildet sein sollten. Und zum anderen war es der Umstand, daß im Zuge demographischer Änderungen und einer expansiven Bildungsentwicklung ab Mitte der 60er Jahre eine große Lehrernachfrage entstand, die durch verbesserte personelle Ausstattung auch im Schulsport behoben werden mußte. In der Ausbildung von Lehrkräften für Schulen hat die Sportwissenschaft an den Universitäten seitdem ein sicheres Standbein, das sie alle Haushaltskürzungen der letzten Jahre noch halbwegs unbeschadet hat überstehen lassen.
Die Ergebnisse dieser Entwicklung zeigen sich inhaltlich und äußerlich darin, daß sportwissenschaftliche Lehr- und Forschungseinrichtungen errichtet und ausgebaut, Forschungspersonal ausgebildet, Forschungsprogramme durchgeführt, sportwissenschaftliche Kongresse abgehalten und Ergebnisse von Forschungen veröffentlicht wurden und sportwissenschaftliche Bücher und Zeitschriften in eigenen und auf Sport spezialisierten Verlagen erschienen. Auch die Studienangebote wurden differenzierter. Neben dem Ausbildungsangebot für Sportlehrerinnen und -lehrer an zahlreichen Universitäten gibt es inzwischen Magisterstudiengänge und Ausbildungsgänge für Diplomstudierende mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Kombinationen - neben dem "klassischen" Diplomsportlehrer finden sich Diplomsportwissenschaftler(-innen) und Diplomsportpädagogen(-innen) und dazu noch unterschiedliche Kombinationen mit wirtschaftlichen, journalistischen, sportmedizinisch-gesundheitlichen Studienanteilen. Wo es Professuren gibt, gibt es in der Regel auch Promotions- und Habilitationsmöglichkeiten.
Kein einheitliches Bild
Wenn in diesem Zusammenhang immer von der Sportwissenschaft die Rede ist, so bleibt gleichwohl festzuhalten, daß es sich, wenn man von Sportwissenschaft spricht, um eine Sammelbezeichnung handelt, hinter der kein einheitliches Bild von dieser Wissenschaft steht. Dem entspricht, daß die Sportwissenschaft unterschiedlichen Fakultäten zugeordnet ist, manchmal zufällig, manchmal mit Bedacht; manchmal bildet sie auch eine eigene Fakultät oder ist - wie an der Deutschen Sporthochschule in Köln - in einer eigenen Hochschule organisiert. Auch ihre fachinterne Entwicklung verläuft entlang unterschiedlicher Zielvorstellungen, nach einem unterschiedlichen Differenzierungsmuster und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Zwischen dem Bemühen, das Fach an einem einheitlichen und integrativen Konzept zu orientieren oder es themenorientiert zu betreiben und seinem Zerfall in zahlreiche Einzeldisziplinen wie Sportpsychologie, Sportsoziologie, Sportgeschichte, Sportökonomie, Sportpublizistik, Sportpädagogik, Sportdidaktik, Bewegungslehre, Trainingslehre, Sportphilosophie, Sportethik etc., gibt es zahlreiche Variationen. Ein kontinuierlicher Entwicklungsprozeß in dem Sinne, daß sich die Sportwissenschaft aus bestehenden Wissenschaften ausdifferenzierte, wie das bei vielen anderen Wissenschaften der Fall ist, fand nicht oder nur in einigen Teilbereichen statt. Sie profitierte vielmehr in besonderem Maße von anderen und insbesondere von externen Einflußfaktoren. Genau genommen ist die Entwicklung der Sportwissenschaft damit typisch für die Entstehung und Entwicklung zahlreicher neuer Wissenschaftsdisziplinen. Sie ist insofern typisch, als sie an einigen Stellen Differenzierungsprozessen von Mutterwissenschaften folgt; und sie ist es auch insofern, als sie in gewissem Sinne die Antwort auf Problemlagen, Nachfragen und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt. Außerdem zeigt sich in ihrer Entwicklung das besondere und manchmal handfeste Interesse von außeruniversitären Organisationen an wissenschaftlichen Einrichtungen und Institutionen.
Für das Fach selbst hatte dies Vorteile und Nachteile. Die Vorteile lagen vor allem darin, daß die Entwicklung hin zu einer eigenen Sportwissenschaft vergleichsweise rasch vor sich ging und, jedenfalls in den Anfangsjahren, auch eine vergleichsweise zügige Personalvermehrung und Ausstattung mit Haushaltsmitteln erfolgte. Der Nachteil liegt darin, daß eine sorgsame Entwicklungsplanung, die gründliche Diskussion des Gegenstandes, der mit dem Allerweltswort "Sport" vergleichsweise ungenau beschrieben wird, und die konsequente Nachwuchspflege unterblieb. Einheitliche Gütemaßstäbe für die Bewertung sportwissenschaftlicher Leistungen konnten sich demzufolge kaum entwickeln, und manche wichtigen Themenbereiche blieben bis heute unbearbeitet. Die einzige öffentliche Diskussion, die bis zum Ende geführt wurde und gleichwohl ohne Ergebnis blieb, war die, ob sich das Fach sinnvoller als Sportwissenschaft oder als Sportwissenschaften bezeichnet. Die meisten Universitäten in Deutschland haben sich der Einfachheit halber für den Singular entschieden.
Diskussionsdefizite sind geblieben. Sie betreffen die Frage der Erhaltung der Einheit dieser universitären Fachdisziplin, was zugleich heißt, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man ein auf Integration angewiesenes "Querschnitts-Fach" vor einem weiteren Zerfall in nur noch durch ein gemeinsames Wort verbundene Teildisziplinen bewahren kann und ob man das soll, wie man Interdisziplinarität als interne Fach-Vorausetzung und als Grundlage der Außenbeziehung zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen pflegt und wie man die Verbindung von Theorie und Praxis in einem Fach, das auch Kompetenzen für praktische Berufsanforderungen zu vermitteln hat, herstellt; auch sportethische Fragen, die gerade im öffentlichen Sport zunehmend von Bedeutung sind - von Problemen des Dopings bis hin zum Kinderhochleistungssport -, haben bislang kaum Antworten gefunden.
Entwicklung nach 1990
Forschungs- und Diskussions-Bedarf ist auch im Hinblick auf die Entwicklung des Sports an den Universitäten in Deutschland seit 1990 geboten. Auch die Sportwissenschaft ist nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine andere geworden, auch wenn sie jetzt überall unter dem gleichen Namen firmiert und organisatorisch in den neuen Bundesländern in Universitäten eingebunden ist, die die Hochschulstruktur der alten Bundesländer übernommen haben. Deshalb stellt sich die Aufgabe, daß sich die Universitäten in den nächsten Jahren nicht nur mit den Folgen der Auflösung und Umstrukturierung der früheren Sportwissenschaft in der DDR zu befassen haben, sondern sie auch gemeinsam ihr Selbstverständnis überprüfen müssen. Das gilt im Hinblick auf die Literatur aus jener Zeit, die in den Bibliotheken verbleibt, auf Denkweisen, die im östlichen Teil Deutschlands gepflegt wurden und auch zu einem Teil weiter gepflegt werden, und es gilt auch für die Nutzung der zum Teil anders gearteten sportwissenschaftlichen Kompetenzen und Erkenntnisse, die dort vorhanden sind. So deutet manches darauf hin, daß die in der früheren DDR entwickelte Beratungskompetenz der Sportwissenschaft, die Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft als eigenes System, auch die Nachwuchspflege, die betrieben wurde, nicht nur zur Kenntnis zu nehmen sind, sondern auch Gegenstand gemeinsamer Diskussion bleiben sollten. Dabei wird es auch darauf ankommen, die politischen Verflechtungen der früheren DDR-Sportwissenschaft von ihren fachlichen und sachlichen Leistungen zu trennen, sofern dies möglich ist. Für alle Universitäten in den alten und den neuen Bundesländern ist es dabei wichtig zu erkennen, daß Sport zu einem Teil und Element der modernen Kultur geworden, im weiteren Sinne also ein Kulturgut ist. Dies zu akzeptieren ist ihnen lange ziemlich schwergefallen. Sport bringt heute auch "Kultur" hervor; Sport ist ein weltweit verbreitetes universales "Kulturmuster", wie der bekannte Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger feststellt; er ist eine neue Art von kulturellem Sinngeber. In diesem Sinne ist Sport auch ein latenter und geheimer "Erzieher", dies in dem Sinne, als seine Strukturen, Ziele, Sinnmuster, Formen und Inhalte öffentlich auf Verhaltensweisen und Einstellungen einwirken. Eine Sportkultur, die anspruchsvoll sein will und nicht auf das Niveau belangloser Freizeitbeschäftigungen absinken möchte, wird aber nicht geschenkt. Um sie muß man sich bemühen, gegebenenfalls streiten. Universitäten, ihre Sportinstitute, deren Professorenschaft und Lehrkräfte tragen für die Erfüllung dieser Aufgabe verständlicherweise eine besondere Verantwortung.
Anschrift des Autors:
Prof. Dr. Dr. h.c. em. Ommo Grupe
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Institut für Sportwissenschaft
Wilhelmstr. 124
72074 Tübingen
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Zeitschrift "Forschung & Lehre" des Deutschen Hochschulverbandes (3. Jg. 1996, Heft 7, 362-366).