dvs-Sektion Trainingswissenschaft
Ziele und Aufgaben
Zum Gegenstand
Die Trainingswissenschaft ist eine der jüngeren sportwissenschaftlichen Disziplinen. So wurde erst 1992 in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) eine eigenständige Sektion „Trainingswissenschaft“ eingerichtet, die sich aus der Gründungs-Sektion „Bewegung und Training“ ausdifferenziert hat. Obwohl sie in Deutschland und vielen osteuropäischen Ländern in den Curricula der meisten sportwissenschaftlichen Studiengänge fest verankert ist, muss man feststellen, dass angloamerikanische Systematiken der Sportwissenschaft keine eigenständige Disziplin „Trainingswissenschaft“ vorsehen und eine internationale Wissenschaftsorganisation im Gegensatz zu den meisten anderen sportwissenschaftlichen Disziplinen fehlt.
Der historische Ursprung der Trainingswissenschaft geht auf Bestrebungen in der Sportpraxis zurück, das Trainerhandeln und die darauf aufbauenden Trainingskonzepte („Meisterlehren“) auf eine systematische Grundlage zu stellen. Auf dieser Basis kann auch das Selbstverständnis der Trainingswissenschaft formuliert werden: Die Trainingswissenschaft ist diejenige sportwissenschaftliche Disziplin, die sich aus einer ganzheitlichen und angewandten Perspektive mit der wissenschaftlichen Fundierung von Training und Wettkampf auf den Anwendungsfeldern des Sports beschäftigt. Die spezifische Herangehensweise der Trainingswissenschaft liegt also in der ganzheitlichen Betrachtung ihrer Gegenstände Leistungsfähigkeit, Training und Wettkampf, während andere Disziplinen eine disziplinäre (medizinische, psychologische usw.) Sichtweise betonen.
In den vergangenen Jahren hat die Trainingswissenschaft ihr Selbstverständnis in Richtung eines offenen Trainingsbegriffs entwickelt: Training ist die planmäßige und systematische Realisation von Maßnahmen (Trainingsinhalte und Trainingsmethoden) zur nachhaltigen Erreichung von Zielen (Trainingsziele) im und durch Sport. Der offene Trainingsbegriff schränkt die verfolgten Trainingsziele in keinerlei Weise ein, wenn es sich um Ziele von Interventionen im und durch Sport handelt. Allerdings ergibt sich aus den Eigenschaften der Planmäßigkeit und Systematik, dass die Ziele nachhaltig verfolgt werden, womit das Training immer über sich selbst hinaus verweist, es also nicht als Selbstzweck aufzufassen ist. Gleiches gilt für die Inhalte und Methoden nach dem offenen Trainingsbegriff: auch hier ist keinerlei Beschränkung notwendig, wenn es sich denn um Inhalte und Methoden zur begründeten Erreichung von Trainingszielen, die im oder durch Sport verfolgt werden, handelt.
Forschungsmethoden
Die Trainingswissenschaft zeichnet sich weiterhin durch eine besonders enge Beziehung zur Trainingspraxis aus, was durch die Betonung der Anwendungsperspektive in Forschung und Lehre hervorgehoben werden soll. Für die Zusammenarbeit mit der Trainingspraxis ergibt sich daraus das Leitziel einer wissenschaftlichen Fundierung des praktischen Handelns von Trainer/in und Athlet/in in Training und Wettkampf. Dabei setzt die Trainingswissenschaft zur Fundierung der praktischen Vorgehensweisen mit der Grundlagen-, Anwendungs- und Evaluationsforschung ein breites Spektrum an Forschungsstrategien ein.
Trainingswissenschaftliche Forschung findet sowohl im Labor als auch unter mehr oder weniger kontrollierten Feldbedingungen der Trainingspraxis vor Ort statt. Dabei kommen sowohl verhaltenswissenschaftliche als auch naturwissenschaftliche Methoden aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zum Einsatz, soweit diese zur Klärung trainingswissenschaftlicher Fragestellungen geeignet sind. Besondere Bedeutung kommt den Verfahren
- Sportmethodische, biomechanische, leistungsphysiologische und kognitive Tests
- Standardisierte Wettkampf- und Spielbeobachtung
- Schriftliche Befragung und Interview
- Trainingsdokumentation und Trainingsanalyse
zu. Die eingesetzten Untersuchungsdesigns reichen je nach Forschungsstrategie und -umfeld von streng kontrollierten Experimenten über quasi-experimentelle Anordnungen bis hin zu qualitativ-explorativen Feldstudien.
Perspektiven
Training findet in sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern des Sports statt, wie zum Beispiel
- Leistungssport
- Kinder- und Jugendsport
- Alterssport
- Fitness- und Gesundheitssport
- Rehabilitationssport
- Schulsport
- Betriebssport
- Gefangenensport usw.
Aufgrund der späten Öffnung des Trainingsbegriffs ist die Zusammenarbeit mit den praktisch handelnden Akteuren und das Repertoire an Handlungsempfehlungen in den einzelnen Handlungspraxen allerdings sehr ungleich entwickelt. Während beim Betriebssport, Rehabilitationssport oder Sport im Strafvollzug noch erhebliche trainingswissenschaftliche Erkenntnisdefizite in Bezug auf die Wirkung sportlicher Interventionen bestehen, hat das Engagement im Leistungssport, Fitnesssport, Gesundheits- und Alterssport sowie im Schulsport eine längere Tradition.
Die Trainingswissenschaft ist zu einem wesentlichen Teil aus der leistungssportlichen Trainingsmethodik entstanden. Insofern ist es nachvollziehbar, dass der Leistungs- und Spitzensport in der Vergangenheit das wichtigste Anwendungsfeld der Trainingswissenschaft darstellte. Auch wenn durch die Öffnung des Trainingsbegriffs neue Anwendungsfelder hinzu gekommen oder in ihrer Bedeutung gestärkt worden sind, so dürfte die Leistungssportforschung und -beratung auf Dauer eine Hauptaufgabe der Trainingswissenschaft bleiben. Neben der für Trainierende aller Altersbereiche bedeutsamen Sportartanalyse bestehen aktuelle Forschungsschwerpunkte im Kinder- und Jugendsport bei der Talentförderung, im Hochleistungssport beim Messplatztraining und bei der prozessbegleitenden Trainingswirkungsanalyse und im Seniorenleistungssport bei der Belastbarkeit und Trainierbarkeit.
Der Zeitraum, in dem sportliches Training ein zentrales Sinnmuster und Element der Lebensführung bedeutet, hat sich in der Vergangenheit vom ursprünglichen Jugend- und frühen Erwachsenenalter allmählich sowohl in Richtung Kindheit als auch in Richtung mittleres und spätes Erwachsenenalter ausgedehnt. Gegenwärtig ist ein beschleunigter Zuwachs sowohl bei der Zahl der Veranstaltungen als auch der Teilnehmer bei Volkssportveranstaltungen und insbesondere bei den Senioren-Meisterschaften (oder „Masters-Wettbewerben“) festzustellen. Es ist daher bemerkenswert, dass die Trainingswissenschaft erst sehr spät und zudem zögerlich die gestiegene Bedeutung von sportlicher Leistungsfähigkeit, Training und Wettkampf in den „Randzonen“ des Höchstleistungsalters in den Blick genommen hat. Zunächst wurde bis in die 1990-er Jahre hinein versucht, das leistungssportliche Trainingskonzept der Erwachsenen in das Kindes- und Jugendalter und in den Bereich des Alterssports hinein zu extrapolieren. Für das Nachwuchstraining hat die unzureichende Grundlagenforschung beispielsweise beim Problem der Trainierbarkeit im Kindes- und Jugendalter dazu geführt, dass überkommene Vorstellungen über die sportmotorische Entwicklung in den meisten Trainingslehren unkritisch und ungeprüft tradiert wurden. Die verstärkten Forschungsbemühungen in der jüngeren Vergangenheit haben an den Beispielen „Bestes motorisches Lernalter“ und „Sensible Phasen“ gezeigt, in welchen Widerspruch aktuelle empirische Befunde zur tradierten Lehrmeinung geraten können.
Beim Alterssport konzentrierte sich die Forschung bislang vor allem auf die Bestimmung der Leistungsfähigkeit des älteren Menschen. Diese ist jedoch allenfalls in Bezug auf die Ausdauerleistungsfähigkeit des Altersleistungssportlers hinreichend eindeutig beschrieben. Daneben gewinnen aufgrund des wachsenden Engagements von Alterssportlern jedoch auch die Fragen nach der Belastbarkeit und Trainierbarkeit des älteren Menschen sowie nach deren Grenzen und der protektiven Wirkung eines hohen Trainingszustands zunehmend an Bedeutung. In diesem Zusammenhang kommt der Trainingswissenschaft „exklusiv“ die Aufgabe zu, altersbezogen optimale Interventionsstrategien zu entwickeln, mit denen die Präventionsziele erreicht werden können.
Dem Anwendungsfeld Fitnesssport stünde sicherlich aufgrund der großen Anzahl von Menschen, die Sport aus diesem Motiv treiben, wesentlich mehr Aufmerksamkeit der Trainingswissenschaft zu, als dies bisher der Fall ist. Entgegen einer Vielzahl von Versuchen, die herkömmlichen Trainingskonzeptionen des Leistungssports in das Handlungsfeld des Fitnesstrainings zu übertragen, ist es sicherlich nicht korrekt, den Fitnesssport als „kleinen Leistungssport“ aufzufassen. Vielmehr müssen von der Trainingswissenschaft mehr als bisher die didaktischen-methodischen, motivationalen und gesundheitlichen Besonderheiten des fitnessorientierten Trainings zu den Fähigkeitskomplexen Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit in den Blick zu nehmen. Die Themen Körpergewicht und Ernährung dürfen ebenfalls im Zusammenhang von Fitnesstraining nicht fehlen.
Eine besondere Bedeutung hat das sportliche Training bei der Prävention und Rehabilitation von Sportverletzungen erhalten, denn mit der zunehmenden Zahl der Sporttreibenden sind die Häufigkeit von Muskel- und Gelenkverletzungen und die damit verbundenen Kosten für das öffentliche Gesundheitswesen stark angestiegen. Vor diesem Hintergrund kann die Trainingswissenschaft in besonderer Weise zur Optimierung eines präventiven und rehabilitativen Trainings und damit auch zur Kostensenkung beitragen. Beim präventiven Training steht aktuell das so genannte propriozeptive Training im Mittelpunkt der trainingswissenschaftlichen Forschungsbemühungen. Bei der rehabilitativen Trainingstherapie wird im Anschluss an Sportverletzungen das generelle Ziel der vollen Wiederherstellung der Beweglichkeit und einer adäquaten muskulären Gelenkstabilität verfolgt. Dabei ergibt sich für die Trainingswissenschaft zukünftig ein verstärkter Forschungsbedarf im Hinblick auf die Optimierung einer adäquaten Stufenfolge der Trainingsmaßnahmen bei den verschiedenen Verletzungstypen und beim Nachweis der mit den verschiedenen Interventions- und Übungsformen erzielten Trainingseffekte.
Bis zu den 1990er-Jahren spielte die Zusammenarbeit von Trainingswissenschaft und Schulsport eine weit größere Rolle als in den vergangenen Jahren. Mittlerweile scheint die Trainingswissenschaft für den Schulsport sogar zu einer „nachrangigen Wissenschaft“ geworden zu sein. Die Gründe für den Rückzug der Trainingswissenschaft aus dem Schulsport sind vielschichtig: Komplizierter Zugang zu den Probanden, geringe Aussicht auf Forschungsförderung, politische Gemengelage bei Interessen und Entscheidungen, eingeschränkte interne Validität von Studien unter den Feldbedingungen von Schule usw. Hinzu kommt, dass sowohl die Trainingswissenschaft als auch die Sportdidaktik in den 1980er- und 1990er-Jahren mehr mit sich selbst, d.h. mit der Klärung ihres Selbstverständnisses beschäftigt waren. Gemäß dem offenen Trainingsverständnis handelt es sich auch beim Schulsport um ein „reguläres“ Anwendungsfeld der Trainingswissenschaft, denn insbesondere im Sportunterricht werden planmäßig und systematisch Inhalte realisiert, um Ziele im oder durch Sport zu erreichen. Im Unterschied zum Fitness-, Gesundheits- oder Altersport handelt es sich beim Schulsport allerdings um einen gesellschaftlichen Bereich, der in hohem Maße ausdifferenziert ist, dessen Auftrag durch das staatliche Erziehungssystem festgelegt ist und mit dessen zeitgemäßer Umsetzung sich eigene Wissenschaftsdisziplinen beschäftigen: Sportpädagogik und Sportdidaktik. Aus der pädagogisch-didaktisch motivierten Sicht des Schulsports lassen sich jedoch gute Gründe anführen, die für eine künftig intensivere Zusammenarbeit der beiden Wissenschaftsdisziplinen sprechen: Die Wertschätzung von Trainieren, Leisten und Wettkämpfen im Schulsport leitet sich im weiten Sinne aus der notwendigen Bezugnahme des Schulsports auf die kulturellen Phänomene des Sports in der (post-)modernen Gesellschaft ab, zu denen eine Gegenwelt aufzubauen ebenso wenig Sinn macht, wie ein bloßes Abbild zu schaffen. Im engeren Sinne verfolgt der Schulsport das Bildungsziel Kompetenzen zu vermitteln, die zur selbstständigen Bewältigung von Bewegungsanforderungen in Alltag, Beruf, Spiel und Sport geeignet sind. Über die innersportlichen Kompetenzen hinaus kann die Trainingswissenschaft auch zu „außersportlichen“ Bildungszielen, wie z.B. Körperwahrnehmung, Körpereinsatz und Körperformung oder auch Entspannung, Gesundheit und Wohlbefinden, einen unersetzlichen Beitrag leisten. Ihre hohe Beitragsfähigkeit auf dem Gebiet des Schulsports hat die Trainingswissenschaft in den vergangenen Jahren durch eine Reihe von Interventionsstudien zur Wirkung von zeitlich begrenzten Unterrichtsbausteinen („Modulen“) wiederholt unter Beweis gestellt.
Neben den herkömmlichen Handlungsfeldern dürfte sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Zunahme der Sportpartizipation zukünftig auch ein gesteigerter Bedarf an fundierten Trainingskonzepten für spezielle Trainingssettings entwickeln. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang der Sport im Strafvollzug genannt. Im Gefangenensport kann sportliches Training in besonderer Weise zu den gesundheitsorientierten Zielen Gewichts- und Entspannungsmanagement sowie psychisches und physisches Wohlbefinden, zur Persönlichkeitsbildung durch die Steigerung von Selbstachtung und Selbstwertgefühl, Anstrengungsbereitschaft und Durchhaltevermögen, sowie durch das Erleben von Eigenverantwortlichkeit, sozialer Akzeptanz und sinnvoller Freizeitgestaltung. Darüber hinaus können sportliches Training und insbesondere auch anstaltsinterne und externe Wettkämpfe im Strafvollzug helfen, so wichtige sozialintegrative Ziele, wie Gemeinschaftsfähigkeit, Gruppendisziplin, Kommunikationsfähigkeit, Toleranz und gewaltfreie Konfliktlösungsfähigkeit sowie sportliche und soziale Regelübernahme und Regelakzeptanz zu erreichen.