Vom 25. bis 27. April 2024 lud der Arbeitsbereich Sportsoziologie des Instituts für Sportwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt zur Jahrestagung der dvs-Sektion Sportsoziologie ein. Im besonderen Jugendstil-Ambiente des Darmstädter Lichtenberghauses trugen rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu bei, die Frage nach der Sportsoziologie als „Krisenwissenschaft“ zu diskutieren und die Rolle der Disziplin in der Auseinandersetzung mit den Krisen unserer Zeit zu erörtern.
Im Einführungsvortrag von Felix Kühnle wurde die Krise als Leitbegriff und Paradigma der aktuellen gesellschaftlichen Lage vorgestellt. In Zeiten von „Coronakrise“, „Flüchtlingskrise“, „Energiekrise“, „Russlandkrise“, „Finanzkrise“, „Krise der Demokratie“ oder „humanitären Krisen“ scheint in der Tat vieles unsicher geworden zu sein. Umso mehr bestünde die Aufgabe der Soziologie zum einen darin, die höhere Komplexität der beobachteten Problemlagen zu analysieren, um deren strukturelle Ursachen offenzulegen und systemische Interventionen zu entwickeln. Zum anderen müsse gerade die Soziologie auch blinde Flecken und überschießende Reaktionen der turbulenten Krisenkommunikation aufdecken und mit kühlem Blick den Paradoxien und nicht-intendierten Folgen vorschneller Krisenbewältigungsversuche auf den Grund gehen.
Das Tagungsthema eröffnete somit ein weites Feld an Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten. Mit ganz verschiedenen theoretischen und methodischen Mitteln beleuchteten die Referent:innen vielfältige Zusammenhänge von Sport und Krise entlang von insgesamt 30 Beiträgen, die sieben Themenfeldern zugeordnet waren: Gesundheitskrisen und sportlich-körperliche Aktivität, Migration als Krise im Sport, Rassismus und Antisemitismus im Sport, Sportorganisationen in der Krise, biografische Krisen im Leistungssport, Geschlechtlichkeits- und Kategorisierungskrisen im Sport sowie Fragen der Krisenintervention, Krisenfestigkeit und Sport. Schnittmengen und Relationen von Sport und Krise wurden auf unterschiedlichen Ebenen beobachtet: auf der Gesellschaftsebene, der Organisationsebene, der Interaktionsebene oder der personalen Ebene. Die Krisen im Fokus waren politischer, militärischer, wirtschaftlicher, ökologischer, sportlicher, gesundheitlicher und psychischer bzw. emotionaler Natur. Krisen wurden hier als Risiken betrachtet, dort als Chancen wahrgenommen – nicht zuletzt als die Chancen jener, die vom Reden über die Krise profitieren.
Drei Hauptvorträge bereicherten die Tagung um wertvolle Denkanstöße und Reflexionsimpulse. André Kieserling, einer der renommiertesten Vertreter der soziologischen Systemtheorie, legte die Hintergründe der omnipräsenten Krisensemantik offen, wies auf die Rolle des Zufalls bei der Allokation von Sieg und Niederlage im Sport hin und hob die Statuskrise als Damoklesschwert der sportlichen Leistungsträger hervor. Astrid Schubring von der Kölner Sporthochschule präsentierte ihre langjährige Forschung über Karrieren und Biografien olympischer und paralympischer Athlet:innen und stellte die besondere Krisenanfälligkeit von Karrierewegen im Spitzensport heraus. Mit Pablo Alabarces von der Universidad de Buenos Aires bot die Tagung einen internationalen Beitrag zum Themenfeld. Der Wegbereiter der Sportsoziologie in Lateinamerika referierte über die höhere Bedeutung des Fußballs für die argentinische Bevölkerung und deutete den WM-Erfolg der Albiceleste in Qatar 2022 als Ekstase des Glücks einer Gesellschaft im „Krisenmodus“.
Mit der Vielzahl an hochwertigen Beiträgen unterstrich die Tagung die Notwendigkeit einer tiefgreifenden soziologischen Reflexion, um die Herausforderungen unserer Zeit zu verstehen und angemessen darauf reagieren zu können. Im Zuge dessen konnten nicht nur Ideen für zukünftige Forschungsprojekte entstehen. Mehr noch wurde deutlich, was die Sportsoziologie in der Auseinandersetzung mit ganz verschiedenen Krisenphasen und Krisenphänomenen schon zu bieten hat.
Ein Get-Together im kleinen Saal des Lichtenberghauses, das Conference Dinner im nahe gelegenen Oberwaldhaus sowie eine Führung auf der Künstlerkolonie Mathildenhöhe (UNESCO Weltkulturerbe) lieferten weitere Möglichkeiten zum kollegialen Austausch und rundeten das Tagungsprogramm ab.
Die Zeitschrift Sport und Gesellschaft plant ein Schwerpunktheft zum Tagungsthema herauszugeben. Über die Einreichungsfrist und alles Weitere wird zeitnah informiert.
Den Abstractband zur Sektionstagung 2024 der Sportsoziologie erhalten Sie unter diesem Link: https://www.sport.tu-darmstadt.de/media/institut_fuer_sportwissenschaften_1/dvs_konferenz_sportsoziologie_2024/Abstractband_Jahrestagung_dvs-Sektion_Sportsoziologie_Darmstadt_2024.pdf