27. Jahrestagung der dvs-Kommission „Geschlechter- und Diversitätsforschung“ an der Universität Leipzig, 24.-26. November 2022
Bereits zum 27. Mal lud die dvs-Kommission „Geschlechter- und Diversitätsforschung“ zur Jahrestagung ein. Austragungsort war die Sportwissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig unter der Leitung von Heike Tiemann und ihrem Team (Niklas Hecht & Greta Engelke). Eröffnet wurde die Tagung durch Grußworte des Dekans der Sportwissenschaftlichen Fakultät Gregor Hovemann, der dvs-Kommissionssprecherin Judith Frohn sowie der lokalen Organisatorin. Nach einer langen Phase des digitalen Austausches war dies die erste Kommissionstagung im Präsenzmodus, über den sich Tagungsteilnehmende wie Organisierende gleichermaßen freuten.
Im Fokus der Tagung stand das (un-)geklärte Beziehungsgefüge zwischen den sportwissenschaftlichen Diskursen zu Inklusion, Diversität und Geschlecht. Während mit allen drei Theorien Prozesse der Zuschreibung, Exklusion oder Teilhabe thematisiert, analysiert und mitunter auch problematisiert werden, stellt sich die Frage, inwiefern die Konzepte miteinander verknüpft werden könnten und sollten. Die Konzepte wie auch mögliche Beziehungsgefüge wurden in vier Hauptvorträgen, drei Arbeitskreisen, zwei Diskussionspanels und einem Hybrid-Panel beleuchtet.
Jürgen Budde legte im ersten Hauptvortrag anhand vielfältiger empirischer Einblicke dar, wie in der pädagogischen Praxis mithilfe von Differenzierungen sowohl Ordnungsstrukturen, als auch Identitätskategorien erzeugt werden. In der Forschung müsse insbesondere das Verhältnis von Differenz, Individualität und Universalismus in schulischen Settings fokussiert werden, da dieses kontextgebunden unterschiedlich ausgestaltet sei. Jürgen Budde plädierte dafür, die Kontextualisierung spezifischer Differenzierungspraktiken stärker einzubeziehen und damit auch zu rekonstruieren, welches konkrete pädagogische Handlungsproblem mithilfe von Differenzierungen gelöst werden solle.
Im Hauptvortrag des zweiten Tages zeigte Bettina Rulofs (DSHS Köln) aus Perspektive der Diversitätsforschung auf, wie Gewalt im Sport mit Machtverhältnissen und Differenzordnungen zusammenhängt. Im Rekurs auf das internationale, interdisziplinäre For-schungsprojekt CASES (Child Abuse in Sport: European Statistics) arbeitete sie heraus, wie personale Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Sport aus struktureller und kultureller Gewalt erwachse und somit aus Macht- und Differenzordnungen hervorgehe. Demnach stellen einerseits Prozesse und Strukturen in Organisationen einen legitimierenden Rahmen für personale Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Sport dar; andererseits seien Adultismus, Heteronormativität und hegemoniale Männlichkeit kulturelle Rahmungen, die interpersonale Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zusätzlich legitimieren.
Der dritte Tag startete mit zwei Hauptvorträgen in einem Hybrid-Format, bei dem zwei Tagungen miteinander verbunden wurden. So fand am Vormittag ein spannender Austausch mit der parallel stattfindenden Jahrestagung der DGfE-Kommission Sportpädagogik in Kooperation mit der ÖSG-Sektion Sportpädagogik statt. In Leipzig zeigte Karolin Heckemeyer in ihrem Hauptvortrag auf, inwiefern spezifische Regularien nicht nur als soziale Platzanweiser für trans* Personen im Wettkampfsport fungieren, sondern letztlich auch deren soziale Exklusion erzeugen. Anhand von empirischen Beispielen zum Umgang mit trans* Personen in Sportorganisationen stellte Karolin Heckemeyer heraus, dass insbesondere der Rekurs auf hochgesteckte sportive Ideale sowie die in Fairnessdiskursen eingelagerten cis-geschlechtlichen, ableistischen und rassistischen Machtverhältnisse soziale Grenzziehungen legitimieren und damit potentiell Diskriminierungen fundieren. Im zweiten Hauptvortrag stellte Aiko Möhwald (live zugeschaltet aus Graz) empirische Befunde und sportpädagogische Handlungsempfehlungen zu trans* Personen im Sportunterricht vor. Insbesondere durch die häufigen und vielfältigen Einlagerungen von binären Geschlechterdifferenzierungen und Körperfokussierungen im Sportunterricht seien trans* Personen stets auch mit ihrem als inkohärent gelesenen Geschlechterkörper konfrontiert. Aiko Möhwald resümierte für die sportpädagogische Praxis, dass die Heterologik nicht nur Problem, sondern auch Lösung für (manche) trans* Personen sein könne, zumindest insofern diese sich einer ‚Gender-Peergroup‘ zuordnen wollen. Inwiefern ein Lösungspotential für non-binäre Personen bestehe, blieb hingegen offen. Im Anschluss an beide Vorträge fand eine gemeinsame hybride Diskus-sionsrunde mit Wortbeiträgen aus Leipzig und Graz statt, die zu vielfältigen Perspektivierungen angeregte.
Außerdem wurden im Rahmen der Arbeitskreise empirische Forschungsprojekte und deren bisherige zentrale Erkenntnisse präsentiert, die die thematische Vielfalt, aber auch das Potential der Geschlechter- und Diversitätsforschung aufzeigten. Hier wie auch in den Diskussionspanels wurde deutlich, wie empirisch und theoretisch, aber auch methodisch, methodologisch und epistemologisch reflektiert Forschungsarbeiten zu Geschlechter-, Diversitäts- und Inklusionsfragen erfolgen müssen, um Differenzkategorien (wie z.B. Geschlecht, Migrationshintergrund oder Behinderung) nicht zu reifizieren, Diskriminierung und Machtverhältnisse nicht zu reproduzieren und Akteure nicht zu exotisieren.
Im Vorfeld der Haupttagung fand die Tagung für Wissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase statt, auf der thematisch wie methodisch vielfältige Qualifikationsprojekte vorgestellt und diskutiert wurden. Im Anschluss daran gaben die Mentorinnen Bettina Rulofs und Karolin Heckemeyer jeweils kritisch-konstruktive Rückmeldungen, die stets den Fortschritt und die Weiterentwicklung der Projekte im Blick behielten. Besondere Anregungen ergaben sich außerdem aus einem Kamingespräch mit Bettina Rulofs, Karolin Heckemeyer, Heike Tiemann und Fabienne Bartsch, bei dem Fragen und Herausforderungen der Qualifikationsphase thematisiert werden konnten, sowie einem von Nadja Walter geführten Workshop zu guter wissenschaftlicher Praxis, Forschungsethik und gemeinsamem geistigem Eigentum. Auf jener Tagung kam die reflektierte Haltung der Kommission einmal mehr zum Ausdruck, da nicht nur über Kategorien und Differenzierungen im Forschungsalltag referiert, sondern auch über die Bezeichnung „wissenschaftlicher Nachwuchs“ diskutiert wurde. Es wurde für alternative Bezeichnungen (wie z.B. „Wissenschaftler*innen in der frühen Karrierephase“) plädiert, um mehr die eingelagerten Selbst-verständlichkeiten zu irritieren sowie weniger Zuschreibungen und Differenzordnungen zu (re-)produzieren.
Die 27. Jahrestagung verdeutlichte, wie herausfordernd der wissenschaftliche Austausch über Phänomene zu Geschlechterverhältnissen, Diversität und Inklusion sein kann. Gleichzeitig verspricht dieser weiterführende Erkenntnisse zur Kontrastierung von empirischen Einblicken wie auch zur Irritation von vorläufigen Lesarten oder selbstverständlichen Denkstandorten, zur Reichweite von Theorien wie auch zur Theoriegenese, zur Reflexion über methodisches, methodologisches und epistemologisches Vorgehen. So wurde das Beziehungsgefüge zwischen den sport-wissenschaftlichen Diskursen zu Inklusion, Diversität und Geschlecht im Rahmen der Jahrestagung mitunter kontrovers diskutiert; es wurden Perspektivierungen und Potentiale der Verschränkung thematisiert und Impulse für zukünftige Forschungen anvisiert.
Tanja Hackenbroich (Uni Göttingen) & Babette Kirchner (Uni Göttingen)