Einführung
In den vergangenen Jahren haben Fragen zum Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt sowohl in (inter-)nationalen Sportorganisationen und in der Sportpolitik, als auch im (sport-)wissenschaftlichen Kontext an Bedeutung gewonnen. Grund dafür sind zum einen aktuelle international bedeutsame Debatten über Geschlechterverifikationsverfahren und die Teilhabe von inter*, trans* und nicht-binären Athlet*innen am Sport. Zum anderen tragen im bundesdeutschen Kontext das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und die 2018 vom Deutschen Bundestag verabschiedete Änderung des §22 des Personenstandsgesetzes, d. h. die Möglichkeit des Geschlechtseintrags „divers“, dazu bei, dass geschlechtliche Vielfalt und Geschlechterdiskriminierung auch im Sport prominente Themen sind. Das AGG verpflichtet alle gesellschaftlichen Institutionen dazu, Diskriminierungen jedweder Art zu verhindern oder zu beseitigen, während die so genannte „Dritte Option“ beim Geschlechtseintrag anerkennt, dass Geschlecht komplexer ist als dies eine dichotome Einteilung in Männer und Frauen suggeriert. Eben dies stellt den Sport vor die Herausforderung, diese Komplexität zu berücksichtigen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie (Geschlechter-)Diskriminierungen im Sport in Zukunft vermieden werden können.
Die Kommission „Geschlechter- und Diversitätsforschung“ der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft e. V. (dvs) sieht in diesem Zusammenhang auch die Sportwissenschaft und ihre Akteur*innen in der Verantwortung, sich zum Thema geschlechtliche Vielfalt zu positionieren und sich für einen geschlechterinklusiven Sport einzusetzen. Dabei gilt es, das Verständnis von und den Umgang mit Geschlechterdiversität im Kontext der sportwissenschaftlichen Wissensproduktion und Wissensvermittlung sowie auf der Ebene sportwissenschaftlicher (Aus-)Bildungsstrukturen kritisch zu hinterfragen, Formen der Geschlechterdiskriminierung zu identifizieren und ihnen entgegenzuwirken.
Geschlechtliche Vielfalt im Kontext sportwissenschaftlicher Wissensproduktion
Die sportwissenschaftliche Geschlechterforschung untersucht seit den 1980er Jahren soziale Herstellungsprozesse von Geschlecht im Sport. Ausgehend von einem (de-)konstruktivistischen Geschlechterverständnis zeigt sie auf, dass und wie Vorstellun-gen einer vermeintlich naturgegebenen Zweigeschlechtlichkeit und einer damit einhergehenden Geschlechterhierarchie im Sport verankert sind und wie diese in sozialen Praktiken und Strukturen des Sports (re-)produziert werden. Die damit einhergehende Kritik an biologistischen Perspektiven auf Geschlecht ist seit einigen Jahren vermehrt ein Anknüpfungspunkt für Forschungen zur Diskriminierung respektive zur Teilhabe von LGBTIQ*-Personen im Sport. Diese Forschungen gilt es zukünftig im Anschluss an internationale Studien, z. B. zu trans*inklusiven Breitensportkontexten oder zu Geschlechterdiversität im Schulsport, zu erweitern. Die sportwissenschaftliche Geschlechter- und Diversitätsforschung kann auf diese Weise zu einer wissen-schaftlich fundierten und differenzierten Debatte über das Thema geschlechtliche Vielfalt im Sport beitragen.
Darüber hinaus bedarf es im Kontext sportwissenschaftlicher Forschung einer disziplinübergreifenden theoretisch-methodologischen Reflexion der Wissensproduktion über Geschlecht. Im Zuge dessen stellt sich nicht nur die Frage, ob und inwiefern Vorstellungen einer scheinbar natürlichen Zweigeschlechtlichkeit im Forschungsprozess reifiziert werden. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern das produzierte Wissen Diskurse fortschreibt, die soziale Ausschlüsse von trans*, inter* und nicht-binären Personen aus dem Sport und somit Formen der Geschlechterdiskriminierung legitimieren. Die sportwissenschaftliche Geschlechter- und Diversitätsforschung plädiert vor diesem Hintergrund für eine Wissenschaftspraxis, die die genannten Zusammenhänge selbstkritisch reflektiert und die Bedeutung gesellschaftlicher Machtverhältnisse in ihrer intersektionalen Verwobenheit hinterfragt.
Geschlechtliche Vielfalt und sportwissenschaftliche Wissensvermittlung
Die sportwissenschaftliche Geschlechter- und Diversitätsforschung macht es sich zum Ziel, Akteur*innen im Feld des Sports für das Thema Geschlechtervielfalt und Geschlechterdiskriminierung zu sensibilisieren. Ausgehend von ihren Theorien und Forschungen möchte sie u. a. bei Sportstudierenden und Sportdozierenden, bei Sportlehrer*innen und Schüler*innen, Trainer*innen und Athlet*innen als auch bei Funktionär*innen und Politiker*innen ein Verständnis für die Problematik ausschließlich zweigeschlechtlicher und geschlechterhierarchisierender Strukturen schaffen und gemeinsam mit ihnen eine inklusive, wertschätzende Perspektive auf Geschlechterdiversität im Sport entwickeln. Dies setzt den Austausch zwischen den genannten Akteur*innen und Wissenschaftler*innen der Geschlechter- und Diversitätsforschung voraus und damit auch Strukturen, die Raum zur Wissensvermittlung und zur Diskussion eröffnen. Insbesondere sportwissenschaftliche Institute haben die Aufgabe, Studierenden und somit Personen, die zukünftig im Feld des Sports tätig sind, eine theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlechtervielfalt im Sport im Zusammenhang mit anderen Diversitätsthemen zu ermöglichen. Dies macht eine curriculare Verankerung notwendig. Auf diese Weise leisten sportwissenschaftliche Studiengänge einen Beitrag zur Entwicklung eines inklusiven, diversitätsgerechten Sports.
Geschlechtliche Vielfalt und sportwissenschaftliche (Aus-)Bildungsstrukturen
Die in den vergangenen Jahren in die Kritik geratenen geschlechterbinären Strukturen des Sports manifestieren sich auch in den Lehr- und Ausbildungspraktiken sportwissenschaftlicher Institute. Nicht nur der nach wie vor an zahlreichen Universitäten und Hochschulen übliche sportpraktische Eingangstest, auch Leistungsbewertungen in Sportpraxiskursen orientieren sich häufig an zweigeschlechtlich normierten Körpervorstellungen und entsprechenden Normtabellen. Diese strukturellen Gegebenheiten können die Teilhabe von Studierenden be- und verhindern, deren Körper und Geschlechtsidentitäten den Vorstellungen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen. Sportwissenschaftliche Institute sind aufgefordert, Richtlinien sowie Kommunikations- und Umgangsweisen zu entwickeln, die trans*, inter* und nicht-binären Personen den Zugang zum Sportstudium ermöglichen, ohne sie zu exponieren und/oder zu pathologisieren. Dies setzt die Bereitschaft voraus, vorhandene Pra-xen zu reflektieren, diskriminierende Strukturen aufzudecken und ihnen entschieden entgegenzutreten. Im Zuge dessen bedarf es auch der Etablierung und konsequenten Anwendung geschlechter- und diversitätsgerechter Sprache, insbesondere in der studienbezogenen Kommunikation, Lehre und Verwaltung (z. B. in Formularen), aber auch in der Forschung.
Autorinnen
Dr. Karolin Heckemeyer (Pädagogische Hochschule FHNW, Schweiz)
Prof'in. Dr. Judith Frohn (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland)
Prof'in. Dr. Sandra Günter (Leibniz Universität Hannover, Deutschland)
für die dvs-Kommission „Geschlechter- und Diversitätsforschung“ (verabschiedet im Mai 2021)
Erklärung der dvs-Kommission „Geschlechter- und Diversitätsforschung“: „Geschlechtliche Vielfalt im Sport – Konsequenzen für die Sportwissenschaft“ – verabschiedet im Mai 2021