Die Olympischen Spiele in München 1972 sind das sporthistorische Narrativ des Sommers 2022. Genau 50 Jahre liegt das größte Sportereignis in der Bundesrepublik Deutschland jetzt zurück. Im direkten zeitlichen Vorfeld zu diesen Spielen hat es vom 21. bis 25. August 1972 ebenfalls in München einen weltweiten „Wissenschaftlichen Kongreß“ (so der offizielle Terminus) gegeben, der „Im Auftrage des Organisationskomitees für die Spiele der XX. Olympiade München 1972“ veranstaltet wurde. Wer erinnert sich? Wer wusste das (von den Jüngeren)?
Zu diesem Kongress gab es im Vorfeld einen Vorbereitungsband mit dem Titel „Sport im Blickpunkt der Wissenschaften. Perspektiven. Aspekte. Ergebnisse“ (Springer-Verlag Berlin/Heidelberg/New York 1972 mit 276 Seiten) und direkt danach mit dem Titel „Sport in unserer Welt – Chancen und Probleme. Referate. Ergebnisse. Materialien“ einen Berichtsband (Springer Verlag Berlin/Heidelberg/New York 1973 mit 670 Seiten). Beide Bände wurden federführend von Ommo Grupe (1930-2015) unter Beteiligung weiterer Wissenschaftler herausgegeben. Für die Redaktion beider Bände zeichnet ebenfalls Ommo Grupe (Tübingen) u.a. mit Dietrich Kurz (damals Tübingen, heute Bielefeld) verantwortlich. Soviel zur bibliometrischen Vermessung dieses olympischen Wissenschafts-Erbes aus dem Jahre1972 …
Wie können wir diesen großen internationalen „Wissenschafts-Kongreß“ heute einordnen? Diese Frage kann hier nicht umfassend und ein für alle Mal beantwortet werden. Lediglich Gedankensplitter seien aber erlaubt: Dabei darf festgestellt werden, dass es eine solchen (weltweiten) Kongress in der Geschichte Olympischer Spiele weder vorher noch hinterher wiedergegeben hat. Allein dieses wissenschaftshistorische Faktum verdient Würdigung – aber es kommt hinzu: Dieser Kongress war ein „Startschuss“ in der Take-off-Phase der modernen Sportwissenschat in Deutschland. Es war sicher nicht der einzige „Startschuss“ (oder „Geburtshelfer“), aber ein durchaus bedeutender: Es war der erste „Wissenschafts-Kongreß“ auf dem Gebiet der Sportwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Denn – und das klingt aus heutiger Sicht einigermaßen überraschend bis bescheiden – der Terminus Sportwissenschaft kommt weder im Inhaltsverzeichnis vorn noch im Sachverzeichnis hinten in den beiden Bänden explizit vor.
Dafür haben Willi Daume (als OK-Präsident) und Herbert Kunze (als OK-Generalsekretär) schon im Vorwort zum Berichtsband die Funktion der (Sport-)„Wissenschaft nicht nur als angewandte Wissenschaft in der Bedeutung von Athleten“ beschrieben, „sondern auch als informierende, reflektierende und kritische Instanz“. Kurze Zwischenfrage: Ist das auch heute noch die Rolle bzw. der Auftrag der Sportwissenschaft?
Schaut man sich im Vorbereitungsband das „Mitarbeiterverzeichnis“ und im Berichtsband dann das „Referentenverzeichnis“ etwas genauer an, dann dürfte die Mehrzahl der Personen aus dem Ausland dabei gewesen sein; der Frauenanteil lässt sich leider nicht ermitteln, weil nur Nachnamen aufgeführt sind. In München waren so viele Sportwissenschaftler aus der DDR unter den Teilnehmern wie vermutlich bis zum Mauerfall 1989 nie wieder: Allein von der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig z.B. Kurt Tittel (1920-2016), Heinz Schwidtmann (1926-2001), Günter Erbach (1928-2013) und Edelfried Buggel (1928-2000).
Nur zur zeithistorischen Einordnung: Die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) wurde am 5. Oktober 1976 in München gegründet. Mit Elk Franke (geb. 1942), Dietrich Kurz (geb. 1942), Karlheinz Scherler (1945-2007), Andreas H. Trebels (1937-2021) und Klaus Zieschang (geb. 1939) waren allein fünf spätere dvs-Präsidenten beim wissenschaftlichen Kongress in München im Sommer 1972 schon dabei … u.a. zusammen mit Gudrun Doll-Tepper (geb. 1947), Gründungsmitglied der dvs und u.a. von 1997 bis 2008 Präsidentin des International Council of Sport Science and Physical Education (ICSSPE). Gudrun Doll-Tepper ordnet den Münchener Kongress sogar als „Meilenstein für die Olympische Bewegung“ in einem persönlichen „Blick zurück und nach vorn“ ein. Dieser Beitrag erscheint demnächst in einem Band über „Olympische Reflexionen. Die Spiele zwischen Hoffnung und Gefährdung. Im Gedenken and Walther Tröger“ (Hildesheim: arete Verlag).
Autor: Prof. Dr. Detlef Kuhlmann,
(geb. 1954, im Sommer 1972 Oberprimaner an einem Gymnasium in Bielefeld, in den 1980er Jahren unter dvs-Präsident Dietrich Kurz dvs-Geschäftsführer, heute Institut für Sportwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover)