Rehabilitation – Zwischen Bewegungstherapie und Behindertensport
Bericht von der Jahrestagung der dvs-Kommission Gesundheit in Kassel, 21.-22. September 2006
In der unweit von Kassel im nordhessischen Bergland gelegenen Reinhardswaldschule fand die diesjährige Jahrestagung der dvs-Kommission Gesundheit statt. Ein besonderer Schwerpunkt in diesem Jahr galt der Rehabilitation sowohl im Gesundheitssport, in der Sporttherapie als auch in den "klassischen" Feldern des Rehabilitations- und Behindertensports. Dieser Zielstellung folgend wurden Ansätze einer modernen Bewegungstherapie, Modelle der Nachsorge in der Rehabilitationskette sowie Konzepte im Breiten- und Leistungssport von Menschen mit Behinderungen in drei Hauptvorträgen und in sechs Arbeitskreisen eingehend dargestellt und diskutiert.
Die knapp 90 Teilnehmer hatten zusätzlich die Möglichkeit, sich in den Pausen und in der eigens eingerichteten Ideenpause über aktuelle Produkte auf dem Therapiemarkt zu informieren, eine umfangreiche Bücherausstellung zu "durchstöbern" und - als besonderes Highlight – die Ausstellung "So vielfältig wie das Leben – Sport für Menschen mit Behinderungen" zu betrachten. Diese im Jahre 2004 von Wegner, Scheid, Pochstein, Kaul und Dahlmanns erstellte umfangreiche Ausstellung informiert auf über 20 großformatigen Tafeln über die verschiedenen Facetten des Sports von und für Menschen mit Behinderungen.
Gerhard Huber (Heidelberg) und Klaus Pfeifer (Erlangen) stellten im ersten Hauptvortrag Bausteine einer moderner Bewegungstherapie vor. Huber und Pfeifer betonten, dass die Evidenz für die gesundheitlichen Potentiale körperlicher Aktivität in fast allen epidemiologisch bedeutsamen Erkrankungen schier erdrückend sei. Nahezu 80% aller Leistungen in der stationären Rehabilitation sind der Bewegungstherapie zuzuordnen, hierbei nimmt die Sporttherapie einen immer größeren Stellenwert ein. Ein Grund hierfür sei in den immer wichtiger werdenden pädagogisch-edukativen Effekten einer solchen Sporttherapie zu suchen. Huber und Pfeifer verdeutlichten den Nachholbedarf in der Sporttherapie, da die Inhalte und Vermittlungsstrategien, die bisher aus dem Leistungs- Schul- und Breitensport kommen, nur als Grundlage gesehen werden müssten und auf die Bedingungen einer Bewegungs- bzw. Sporttherapie ergänzt und modifiziert werden müssten. Ziel sollte das Erreichen von risikoexponierten Zielgruppen, die Veränderung von gesundheitsbezogenen Einstellungen und eine verbesserte Wissensvermittlung sein. Neben vorhandenen Bausteinen einer Bewegungstherapie müssten zusätzliche Bausteine entwickelt und diese vor allem hinsichtlich ihrer Effektivität auf den Rehabilitationserfolg überprüft werden.
Der Arbeitskreis 1 der Erlangener Gruppe um Wolfgang Kemmler stellte neueste Erkenntnisse zum Krankheitsbild der Osteoporose dar. Dazu gehörten u.a. eigene Studien zur Sturzprophylaxe, in denen der Erfolg klar definierter und kontrollierter Interventionen auf das Sturzrisiko nachgewiesen werden konnte. Zeitgleich ging es im Arbeitskreis 2 um Möglichkeiten aber auch Grenzen verschiedener Gesundheitskonzepte. Schwerpunkt waren Studien zu deutschlandweiten Aktionen (Deutschland bewegt sich!) sowie Erkenntnisse zur Stressbelastung in verschiedenen Settings, Bewegungsprogramme mit Frauen in schwierigen Lebenslagen und die Evaluation eines Gesundheitskonzeptes für Patienten mit metabolischem Syndrom.
Manfred Wegner (Kassel) eröffnete nach der Ideenpause den Nachmittag mit einem Hauptvortrag zu Wirkungsmechanismen sportlicher Aktivität im Behindertensport. Dabei verdeutlichte er die Möglichkeiten und Grenzen sportlicher Aktivität für Menschen mit Behinderungen am ICF-Modell der WHO. Ansatzpunkte sind die funktionale Schädigung, spezielle, auf die Zielgruppe zugeschnittene Aktivitäten und die Möglichkeiten der Teilhabe. Eine prinzipielle Vorraussetzung sei allerdings eine gelingende Bewältigung, um überhaupt die Bereitschaft zu haben, mit Behinderung sportlich aktiv zu werden. Der wissenschaftliche Forschungsstand ist eher dürftig und umfasst zumeist anekdotische Berichte und Übersichtsdarstellungen. Allerdings ist eine streng evidenzbasierte Ausrichtung der Forschung nicht immer möglich, so dass ein pragmatisches aber trotzdem methodisch anspruchsvolles Vorgehen von Seiten der Sportwissenschaft erforderlich ist.
Das wissenschaftliche Programm wurde in den Arbeitskreisen 3 und 4 fortgeführt. Der AK 3 fokussierte besonders auf die Lücke zwischen Intention und Verhalten, die mithilfe von motivationalen und volitionalen Interventionen geschlossen werden könne. Gerade dieser kritische Punkt des vorzeitigen Abbruchs bzw. der gar nicht angetretene Schritt in die gesundheitssportliche Aktivität, bedarf einer genaueren Betrachtung, damit die Rehabilitationskette nicht an diesem Punkt durchbrochen wird. Der Arbeitskreis 4 beleuchtete verschiedene Trainings- und Bewegungsprogramme hinsichtlich ihrer Wirksamkeit in der Rehabilitation und sprach dabei ein bereites Themenspektrum von der Adipositastherapie bis hin zum Nordic Walking an.
Alexander Woll neuer Sprecher der dvs-Kommission Gesundheit
Auf der anschließenden Mitgliederversammlung wurden die zwei langjährigen Mitglieder des Sprecherrats, Manfred Wegner und Alfred Rütten (Erlangen), verabschiedet - vielen Dank für die konstruktive Zusammenarbeit. Neu gewählt wurden Alexander Woll (Konstanz) und Ralf Sygusch (Bayreuth). Klaus Pfeifer gab sein Amt als Kommissionssprecher an Alexander Woll ab, bleibt dem Sprecherrat aber erhalten. Auch ihm ein herzliches Dankeschön für die geleistete Arbeit und das große persönliche Engagement.
Den zweiten Tag der Jahrestagung eröffnete der Hauptvortrag von Werner Müller-Fahrnow (Berlin), der die Entwicklungschancen der Rehabilitation aus Sicht der Rehabilitationswissenschaften darstellte. Müller-Fahrnow stellte Verbindungen, aber auch bestehende Gegensätze zwischen dem sport- und bewegungstherapeutischen und dem medizinischen Bereich her. Die schon vorhandenen Verbindungen und Kooperationen, insbesondere in der Rehabilitation von Herzpatienten, sollten verstärkt werden, die noch bestehenden Differenzen im Sinne der Patienten möglichst schnell reduziert werden. Auch Müller-Fahrnow betonte besonders, die Nachsorge stärker in den Mittelpunkt zu stellen und in diesem Bereich die Forschungstätigkeiten zu erhöhen.
Der abschließende AK-Block umfasste noch einmal zwei gut nachgefragte Arbeitskreise. Im Arbeitskreis 5 ging es um Bewegungskompetenz und die Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Hier reichte das Spektrum vom Kindergarten bis zum Jugendalter, von der sozialen Chancenungleichheit bis zur Adipositas im Kindesalter.
Der Behindertensport war das Schwerpunktthema im Arbeitskreis 6, diesmal mit insgesamt sechs Einzelbeiträgen. Verschiedene Facetten des Behindertensports wurden beleuchtet, so die Bewältigung durch den Sport bei Tetraplegikern, die Kommunikation von Athleten und Trainern im Behindertenleistungssport, die Trainings- und Messmethodik bei Wurfdisziplinen im Rollstuhl, Möglichkeiten der Entwicklungsförderung bei Menschen mit geistiger Behinderung sowie curriculare Überlegungen zum Schneesport oder zur Ausbildung von Expert/innen in dem Bereich von älter werdenden Menschen mit Behinderungen.
Forum "Bewegung in der Nachsorge: Stiefkind oder Vorzeigemodell?"
Ein besonderer Höhepunkt war das gesundheitspolitische Forum "Bewegung in der Nachsorge: Stiefkind oder Vorzeigemodell?" zum Abschluss der Veranstaltung. Hier diskutierten Vertreter der Vereine und Verbände mit Vertretern der Krankenkassen, der Kostenträger und professionellen Anbietern über die Möglichkeiten und Grenzen der derzeitigen Rehabilitationspraxis. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Nachsorge bzw. die Verankerung der Bewegungs- und Sporttherapie in dieser doch kritischen Phase, in der der Patient nicht mehr in der ambulanten oder stationären Rehabilitation ist, den Weg in die alltägliche Aktivität aber auch noch nicht gefunden hat. So hat ja gerade die Nachsorge einen besonders wichtigen Stellenwert in Bezug auf den Rehabilitationserfolg.
Am von Klaus Pfeifer moderierten Forum nahmen Andrea Fröhlich (LSB Hessen), Silke Brüggemann (Deutsche Rentenversicherung Bund), Edelinde Eusterholz (VdAK-AEV), Werner Müller-Fahrnow (Charité Berlin) und Gerhard Huber (DVGS) teil. Die Rehabilitation und die Bewegungs- und Sporttherapie als deren Instrumente will die Lebensqualität verbessern, indem der Gesundheitszustand positiv beeinflusst wird. Hier stelle sich nun die Frage, inwiefern dafür drei Wochen Reha, seien sie ambulant oder stationär, ausreichen könnten. Desweiteren sei über die Gestaltung dieser drei Wochen zu reflektieren, damit ein möglichst großer Erfolg möglich sei.
Edelinde Eusterholz vom VdAK räumte ein, dass der Transport des Rehabilitationserfolges in den Alltag oft schwierig sei. Auch die ambulante Form der Rehabilitation hat hierbei noch nicht den erwünschten positiven Effekt gebracht, bei der stationären Rehabilitation müsse noch mehr auf die wohnortnahe Durchführung geachtet werden. Als wünschenswertes Ziel nannte sie die Vermittlung der Patienten zu Sportvereinen durch die Rehabilitationseinrichtung. Zustimmung hierfür kam von Andrea Fröhlich (LSB Hessen). Sie bekräftigte das Interesse der Verbände, für eine bessere Vernetzung der Rehabilitationskette zu sorgen. Hierfür müsse allerdings ein ortsnahes Angebot ebenso gewährleistet sein wie die hochwertige Aus- und Weiterbildung der Übungsleiter in den Verbänden, um die Patienten auch in die Breitensportgruppen integrieren zu können. Von Seiten der Deutschen Rentenversicherung Bund wurden klar, dass drei Wochen Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik nur einen Anstoß für den Aufbau eines gesundheitsförderlichen Verhaltens liefern kann. Deshalb sei die Nachsorge nicht das Stiefkind der Rehabilitation, sondern eher ein für die Zukunft viel versprechender neuer Weg, der zunehmend genutzt wird. Gerhard Huber (DVGS) vermisst genau die von den Vorrednerinnen genannte Vernetzung, die es gerade im Bereich der Herzsportgruppen durchaus früher schon gab. Huber betonte, dass ein generelles Umdenken erforderlich sei. Rehabilitation sei eine Lebensaufgabe und auch eine Lerninstanz und keine einmalige Kur. Dem Grundsatz "Reha vor Rente" folgend, müsse unbedingt der Arbeitsplatz der Patienten stärker als bisher in das Rehabilitationskonzept miteinbezogen werden. Werner Müller-Fahrnow stellte aus Sicht der Ärzteschaft dar, dass die Nachsorge durchaus ein Erfolgsmodell sei, allerdings bisher nur im Bereich der Herzpatienten und mit Abstrichen auch bei Onkologiepatienten umgesetzt worden ist. Hier sei weitere evidenzbasierte Forschung der Sportwissenschaft nötig, um in Zusammenarbeit mit den Ärzten die eigentlich guten motivationalen Vorrausetzungen der Patienten zu nutzen.
Abschließend wurde die Frage diskutiert, ob es nicht möglich und hierbei vor allem bezahlbar sei, die Patienten nach der Rehabilitation und vor dem Eintritt in den Verein professionell betreuen zu lassen. So könnte im Sinne einer Verhaltensänderung der nachhaltige Erfolg besser gesichert werden und die Kluft zwischen guten Vorsätzen am Ende der Rehabilitation und der tatsächlichen regelmäßigen körperlichen Aktivität wäre besser zu überbrücken. Von Seiten der Deutsche Rentenversicherung Bund würden solche Modelle überdacht, um eben diesen Übergang zu erleichtern. Das Geld sei generell da, führte Brüggemann aus. Somit ständen die Chancen zumindest für eine Pilotphase nicht allzu schlecht. Von Seiten der VdAK sind solche Konzepte allerdings noch nicht angedacht, ebenso sei die Finanzierung noch nicht geklärt. Hier werde vielmehr auf die Optimierung schon vorhandener Konzepte gesetzt. Die Vereine und Verbände ständen der Idee positiv gegenüber, obwohl die Qualität der Übungsleiter ebenso ständig verbessert werde und somit durchaus auch der Aspekt der Verhaltensänderung von dem schon vorhandenem Personal geleistet werden könne.
Da es so gut wie keine Nachsorgemodelle ohne Bewegung(-stherapie) gibt, abgesehen von einigen rein psychosomatisch ausgerichteten Modellen, müsse die Sportwissenschaft dringend weiter an der Entwicklung von qualitativ hochwertigen Bausteinen der Bewegungstherapie arbeiten. Huber stellte klar, dass sowohl die Entwicklung dieser Bausteine als auch deren Evaluationen explizite Aufgaben der Sportwissenschaft seien, die in nächster Zeit eine hohe Priorität haben sollten.
Mit diesem selbst gesteckten Ziel schloss die Podiumsdiskussion und auch die 10. Jahrestagung der Kommission Gesundheit. An zwei Tagen wurde komprimiert und intensiv über verschiedene Facetten der Rehabilitation aus interdisziplinärer Sicht informiert und diskutiert. Hierbei wurde wieder einmal die Vielfalt dieses Themenkomplexes ersichtlich, aber auch, dass die Sportwissenschaft auf einem guten Weg ist, mit kreativen Ansätzen die aufgeworfenen Problemfelder zu bearbeiten. Die Tagungsstätte Reinhardswaldschule hat sich mit ihrer Lage mitten in Deutschland für weitere Veranstaltungen empfohlen, und der gemeinsame Abend wird mit der gelungenen Performance sicherlich den meisten TeilnehmerInnen noch lange positiv in Erinnerung bleiben.
Florian Pochstein
Universität Kassel