Sport und Raum - Disziplinäre Ansätze und interdisziplinäre Perspektiven
Bericht von der Tagung der dvs-Kommission "Sport und Raum" (i.G.) am 22. März 2006 in Frankfurt am Main
Am 22. März 2006 trafen sich in Frankfurt am Main WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Fachdisziplinen im Rahmen der ersten Fachtagung und Mitgliederversammlung der dvs-Kommission "Sport und Raum" (i.G.). Ziel dieser Tagung war das Ausloten von: Wo liegen Chancen und Grenzen interdisziplinärer Arbeit in der Sportwissenschaft sowie in angrenzenden Wissenschaften zum Thema "Sport und Raum".
Zum Einstieg wurden aus der Sicht der Wissenschaftstheorie Realisierungsmöglichkeiten und Risiken interdisziplinärer Wissenschaft reflektiert. Vertreter unterschiedlicher disziplinärer Sichtweisen klärten anschließend den jeweils spezifischen Raumbegriff sowie mögliche Anschlussstellen zu anderen Disziplinen. In Arbeitskreisen am Nachmittag wurden am Beispiel sportwissenschaftlicher Projekte im Bereich "Sport und Raum" interdisziplinäre Bezüge konkretisiert. Am Ende der Tagung erfolgte im Rahmen einer Mitgliederversammlung die Wahl des Sprechers bzw. des Sprecherrates.
Die Tagung fand in den Räumlichkeiten des Landessportbundes Hessen statt und wurde vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziell unterstützt.
Hauptvortrag
Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Willimczik (Bielefeld/Darmstadt) referierte zum Thema "Chancen und Risiken interdisziplinärer Wissenschaft zu Sport und Raum". Der Referent versuchte, im Sinne einer Real-Utopie Bedingungen und Möglichkeiten für Interdisziplinarität im Bereich "Sport und Raum" zu ergründen. Dabei stellte er in einem ersten Schritt einen kurzen geschichtlichen Abriss des Themas Interdisziplinarität mit notwendigen Begriffsklärungen als eine Grundlage für einen Diskussionsvorschlag seinerseits dar.
Will man laut Willimczik von einem Wissenschaftsbereich "Sport und Raum" reden, dann müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Demnach muss eine Wissenschaft konstitutive Bestandteile in zwei Bereichen aufweisen: (a) eine wissenschaftliche Gemeinschaft, die eine intensive und professionelle Kommunikation betreibt, und bei der gemeinsame Elemente in der Ausbildung und in den Kenntnissen der Mitglieder vorliegen. (b) ein allgemeines Paradigma und/oder spezielle Paradigmen, wobei ein allgemeines Paradigma der Kommission "Sport und Raum" das der Interdisziplinarität sein könnte.
Wesentliche Komponenten zur Konstituierung eines Forschungsprogramms "Sport und Raum" sind nach Willimczik:
- Die Überwindung des bisher eher unzureichenden und nur punktuellen AusÂtausches zwischen den Fachdisziplinen und Forschergruppen, die Erarbeitung von Evaluationskriterien und Durchführung von Evaluationsstudien sowie die Schaffung von Netzwerken, die einen Informationstransfer zwischen den Disziplinen erst möglich machen.
- Die Identifizierung von 'Barrieren', die den Wissensaustausch beeinträchtigen können (z.B. disziplinäre Schranken), um diese zu diskutieren und möglicherweise zu beseitigen.
- Die Durchführung von Symposien und Workshops, um ein Forschungsparadigma, wie z.B. das der Interdisziplinarität, zu formulieren.
Raumbegriff aus Sicht unterschiedlicher Disziplinen
Im Anschluss an den Hauptvortrag folgten drei Beiträge aus den Fachdisziplinen (1) Architektur von Frau Dr. Christina Jeschke (TU München, Fakultät für Architektur), (2) Raumplanung von Herrn Prof. Dr.-Ing. Lüder Bach (Uni Bayreuth, Raumplanung) und Prof. Dr.-Ing. Werner Köhl und (3) der (Sport-)Soziologie von Prof. Dr. Franz Bockrath (TU Darmstadt, Sportwissenschaft).
(1) Der Vortrag von Frau Dr. Jeschke beleuchtete den Raumbegriff aus der Fachdisziplin Architektur. Sie stellte fest, dass in der Wissenschaft der Architektur keine theoretische Erarbeitung des Raumbegriffes existiert. Der Raumbegriff wird aus Erfahrungswissen und praktischer Anwendung heraus über den Begriff der Raumwirkung definiert. Jeschke referierte, dass eine bestimmte Raumwirkung über subjektive und objektive Raumeigenschaften erzeugt werden kann.
(2) Im Anschluss wurde der Begriff des Raumes von Prof. Dr.-Ing. Bach und Prof. Dr.-Ing. Köhl aus Sicht der Raumplanung betrachtet. Beide definierten aus ihrer Fachdisziplin heraus den Raum als Behälterraum, bei dem ein Raum erst durch seine Nutzung ein bestimmter Bewegungsraum wird. Über die Nutzung eines Raumes entsteht somit ein Raum-Nutzungs-Gefüge, welches durch endogene und exogene Nutzungsbegrenzungen die Sportnachfrage und den Sportbedarf beeinflusst. Der Raum bestimmt damit die tatsächlichen sportlichen Aktivitäten der Bevölkerung.
(3) Herr Prof. Dr. Bockrath referierte zu dem Thema "Urbane Sporträume" aus einer (sport-)soziologischen Perspektive. Er ging davon aus, dass Städte heute durch eine homogene Vielfalt kultureller, ethnischer sowie räumlicher Formationen gekennzeichnet sind. Räume sind dabei nicht einfach vorgegeben, sondern werden praktisch körperlich hergestellt, d.h. für die Konstitution von Raum sind körperliche Bewegungen, Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen bedeutsam. Diese Annahme kommt zum Ausdruck in neuen Bewegungsformen in der urbanen Umgebung wie z.B. dem "free-running", "cross-golf" und "base-jumping".
Nach dem Mittagessen wurden insgesamt sechs�sportwissenschaftliche Projekte in zwei�Arbeitskreisen vorgestellt und auf der Folie der Interdisziplinarität diskutiert.
Arbeitskreis 1
Der erste Arbeitskreis stellte die zukunftsorientierte Planung und Gestaltung ganz unterschiedlicher Sport- und Bewegungsräume in den Fokus der Betrachtung. Ziel war es, exemplarisch aufzuzeigen, dass gerade Objektplanungen im Sportbereich, die lange Architekten überlassen blieben, ohne dass sich die Sportwissenschaft (Sportpädagogik, Sportsoziologie) oder andere Wissenschaftsdisziplinen hier einmischten, eine Fülle an wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. wissenschaftlicher Beratung benötigen und ein dankbares Feld für den interdisziplinären Austausch darstellen.
In einem ersten Beitrag ging Dr. Jörg Wetterich vom Institut für Kooperative Planung und Sportentwicklung aus Stuttgart unter dem Thema "Zukunftsorientierte Sportstätten – Planung, Umsetzung, Nutzung" auf Umdeutungen und Neukonzeptionierungen traditioneller Sportstätten ein. Am Beispiel unterschiedlicher Modellprojekte zeigte er auf, wie wichtig es angesichts des Fehlens einer übergreifenden Theorie des sportlichen Raums und der Sportstättenplanung ist, empirische und theoretische Erkenntnisse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zusammenzuführen, um konzeptionelle Gestaltungen von zukunftsorientierten Sportstätten und Bewegungsräumen zu entwickeln. Er bezog sich dabei exemplarisch auf empirische Ergebnisse zum Sportverhalten und den Sportwünschen der Bevölkerung, auf den grundlegenden Strukturzusammenhang zwischen Raum und Bewegung aus raumsoziologischer und historischer Perspektive, auf Erkenntnisse der politischen Steuerungstheorie sowie auf Evaluationsergebnisse zur Nutzung umgestalteter Sportareale.
Im zweiten Beitrag referierte Prof. Dr. Eckart Balz (Bergische Universität Wuppertal, Sportwissenschaft/Sportpädagogik) über das Thema "Kommunale Sportgelegenheiten". Nach einer Konkretisierung des Raumbegriffs stellte er anhand der Beschreibung von Projekten aus verschiedenen Städten dar, wie dieses Thema zunehmend in einen multidisziplinären Austausch einbezogen werden konnte. Beim Gutachten über Sport- und Bewegungsräume für die Stadt Bielefeld stand eine sportpädagogische Fokussierung, die Sportgelegenheiten als Orte der Weltbegegnung und des Aufwachsens begreift, im Vordergrund. Das lokale Kooperationsprojekt "Regensburger Sportgelegenheiten" ergänzte diese Perspektive durch eine planungswissenschaftlich begründete Aufnahme, Bewertung und Kartierung dieser wohnortnahen, frei zugänglichen und zur sportlichen Mitnutzung offen stehenden Bewegungsräume. Die zur Zeit laufende Aufnahme und Bewertung aller Sportgelegenheiten in Wuppertal wird aus disziplinübergreifender Perspektive durchgeführt und ist integrativer Bestandteil einer umfassenden kommunalen Sportentwicklungsplanung.
Zum Schluss des Arbeitskreises hielt Dr. Rosa Diketmüller (Universität Wien, Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport) einen Vortrag zum Thema "Schulfreiräume und Geschlechterverhältnisse". Ausgehend von theoretischen Zugängen zu den Begriffen "Geschlecht" und "Raum" stellte sie Studien zur Raumnutzung von Mädchen und Frauen in öffentlichen Räumen vor. Die in den zahlreichen Studien aufgezeigten Geschlechterdifferenzen bei der Aneignung des öffentlichen Raumes wurden anschließend durch theoriegeleitete Erklärungsmodelle begründet. Auf dieser theoretischen Basis stellte die Referentin das interdisziplinäre Projekt "Schulfreiräume und Geschlechterverhältnisse" vor, das in 20 Schulen in Österreich durchgeführt wird und auf der Grundlage einer Schulraumkartierung und einer Analyse der Raumnutzung von Schulfreiräumen durch Mädchen und Jungen eine Sensibilisierung von Schüler/innen und Lehrer/innen hinsichtlich einer Nutzung dieser Räume intendiert.
Arbeitskreis 2
Im zweiten parallel durchgeführten Arbeitskreis wurden drei verschiedene Projekte im Themenfeld "Sport und Raum" vorgestellt, die vor allem durch eine je unterschiedliche Nähe zum klassischen (Wettkampf-)Sportmodell gekennzeichnet sind.
Zunächst stellte Professor Dr. Veit Senner (TU München, FG Sportgeräte und -materialien) das Konzept für ein mit Muskelkraft betriebenes Verkehrsmittels für Ballungsräume namens "Velovent" vor. Dabei sollen mit Muskelkraft betriebene und in der Fortbewegung durch einen Luftstrom unterstützte Fahrzeuge im städtischen Umfeld Verkehrsknotenpunkte verbinden. Die Variabilität der damit möglichen Verkehrskonzepte von nicht motorisiertem Individualverkehr bis zu Transportkonzepten wurde durch Designstudien zu möglichen Prototypen von Fahrzeugen demonstriert.
Vor allem mit dem Bezug auf Freizeit- und Outdoor-Sportarten präsentierte Prof. Dr. Ralf Roth (Deutsche Sporthochschule Köln, Institut für Natursport und Ökologie) den interdisziplinären Ansatz der Sportraumentwicklung, den er am Beispiel verschiedener Forschungs- und Beratungsprojekte genauer darlegte. Zentrales Merkmal dieses Ansatzes im Sinne systemorientierter Naturwissenschaft ist die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit Bewegungsmöglichkeiten des Menschen in Natur- und Kulturlandschaften unter Beachtung der jeweiligen gegenseitigen Beeinflussung. Die notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit wird in diesem Fall dauerhaft im Rahmen der Zusammenführung von Spezialisten aus unterschiedlichsten Gebieten (Sportwissenschaftler, Biologen, Geologen usw.) am Institut für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule Köln sicher gestellt, die jeweils projekt- und aufgabenbezogen zusammenarbeiten.
Im Überblick über Forschungs- und Beratungsprojekte in drei Städten im Ruhrgebiet stellte Oliver Wulf von der Forschungsstelle "Kommunale Sportentwicklungsplanung" der Universität Wuppertal Erfahrungen bei der Anwendung der leitfadenorientierten Methode der Sportstättenentwicklungsplanung in einer Metropolregion vor. Am Beispiel der Städte Herne, Mülheim und Bottrop konnte demonstriert werden, dass sich nur marginale Unterschiede zwischen den Städten in globalen Parametern der Sportnachfrage wie der Aktivenquote und der Sportartenpräferenz zeigen, dass sich jedoch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Vorausschätzungen der demografischen Entwicklung in den drei Städten teilweise deutlich unterschiedliche Bestands-Bedarfs-Bilanzierungen ergeben. Notwendige Weiterentwicklungen der Methode des Leitfadens für die Sportstättenentwicklungsplanung wurden in diesem Zusammenhang vor allem im Bereich der interdisziplinären Zusammenarbeit (z.B. bei der Beurteilung der Eignung und der Qualität des vorhandenen Sportstättenbestandes) formuliert.
Mitgliederversammlung der dvs-Kommission "Sport und Raum" (i.G.)
Am fortgeschrittenen Nachmittag wurde die erste Mitgliederversammlung der dvs-Kommission "Sport und Raum" (i.G.) mit der Wahl des Sprechers bzw. Sprecherrates durchgeführt. Der vorab gewählte Wahlleiter Herr Prof. Dr. Eckart Balz konnte alle Vorschläge für den Sprecher und den Sprecherrat als einstimmig gewählt festhalten:
Sprecher: Prof. Dr. Ralf Roth (DSHS Köln)
Weitere Mitglieder des Sprecherrates:
Prof. Dr. Heinrich Haass (FH Sachsen-Anhalt, Bernburg)
Prof. Dr. Veit Senner (TU München)
Dr. Jörg Wetterich (IKPS Stuttgart)
Jana Schröder (Universität Erlangen-Nürnberg)
Das Protokoll der Mitgliederversammlung finden Sie hier als PDF-Datei.
Dr. Werner Pitsch (Saarbrücken), Jana Schröder (Erlangen-Nürnberg)
& Dr. Jörg Wetterich (Stuttgart)
Mai 2006